Rezension Bach Matthäuspassion

Matthäuspassion von Bach

Hanauer Kantorei, Matthäus-Passion, Bach, L'arpa festante, Oliver Kringel, Jakob Mack, Thomas Nauwartat-Schultze, Anja Stegmann

Greifbare Gefühle

 

Am Sonntag, 17. März 2019, 19.00 Uhr, brachte die Hanauer Kantorei die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach in der Hanauer Christuskirche zur Aufführung

 

Ein Erlebnis der besonderen Art

 

Hanau. Am Sonntag fand in der Hanauer Christuskirche ein Höhepunkt der Passionszeit statt. Die Hanauer Kantorei und das Orchester L‘arpa festante präsentierten mit Vokalsolisten und unter der Gesamtleitung des Bezirkskantors Christian Mause den Besuchern die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. So viel sei vorweggenommen: Es war ein bewegendes Erlebnis.


19 Uhr, das komplette Geläut der Christuskirche in Hanau erinnert daran, dass sich im Gotteshaus gleich ein besonderes Ereignis abspielen wird. Die Hanauer Kantorei bringt in Zusammenarbeit mit dem Barockorchester L‘arpa festante und Vokalsolisten die überwältigende Matthäuspassion zur Aufführung. Überwältigend nicht nur wegen der Dauer von über drei Stunden, sondern auch und vor allem wegen ihrer musikalischen Kraft. Die Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt, die Besucher warten gebannt auf den hundertköpfigen Chor, der sich gleich auf dem Podest vor dem Altar postieren wird. Einleitende Worte spricht Dekan Dr. Martin Lückhoff, er verweist auf den Schwerpunkt der Matthäuspassion: das Leiden und Sterben Christi. Kaum haben Chor, die Sopranistin Anja Stegmann, der Tenor Oliver Kringel, der Altus Thomas Nauwartat-Schultze und der Bass-Bariton Jakob Mack ihre Plätze eingenommen, hebt Christian Mause auch schon beide Arme. Absolute und gespannte Stille im Kirchenraum. Und dann dirigiert Mause die ersten Takte. Das Orchester L‘arpa festante lässt sich von ihm in mittlerweile gewohnt professioneller, leichter und an Authentizität kaum zu überbietender Weise durch die Partitur führen, und die Wirkung – nun, Originalinstrumente klingen einfach eindringlicher!


Die doppelchörig aufgebaute Passion entfaltet ihre besondere Wirkung und Dramatik genau dadurch, dass sich linke und rechte Gruppen in eine Art Dialog miteinander begeben. Die Musiker gleiten geradezu durch die Notensysteme, Mauses Dirigat bietet die dynamische und tempobestimmende Struktur. Bereits nach den ersten Minuten ist klar, dass hier die Zuhörer etwas Besonderes erwartet. Dieses Versprechen erfüllen auch die beiden Chöre, die sich wie selbstverständlich in das harmonische Gefüge einordnen und ihrerseits markante akustische und emotionale Duftmarken setzen. Allgefälliges Mezzoforte des einen Chores wird von kraftvoll artikulierten Forte-Einrufen des zweiten Chores unterbrochen. Die Choräle, die sich immer wieder auf die thematischen Schwerpunkte in den beiden Passionsteilen beziehen und überdies den fortlaufenden Bibeltext unterbrechen, werden von den Mitgliedern der Hanauer Kantorei mit feinsten Nuancen interpretiert und dargeboten. Ergriffenheit beim Publikum ist garantiert und spürbar.


Die jungen Solisten, allen voran der Tenor Oliver Kringel als Evangelist und Interpret diverser Arien, leisten Beachtliches. Gerade für Kringel ist die Dauer des Werkes mit den zahllosen besonders hohen Passagen eine stimmliche wie energetische Herausforderung. Nicht allein, dass er mit emotionalem, warmen Timbre und kunstvoll eingesetzter Dynamik seinen Figuren aufmerksamkeitsfordernden Raum gibt, er differenziert perfekt die unterschiedlichen Stimmungen und Atmosphären. So entsteht oft der Eindruck, man habe es mit verschiedenen Interpreten zu tun. Mit klarem, immer wieder zwischen lieblich und kraftvoll schwankendem Sopran versteht es Anja Stegmann, das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Die Stille im Raum macht klar, dass ihre Art, den Charakteren Stimme zu geben, von ganz außergewöhnlicher Qualität ist. Man möchte jeden Ton, sei er auch noch so zart dargebracht, vollends auskosten. Ein Erlebnis der besonderen Art ist Thomas Nauwartat-Schultze. Über die rein gesangliche Interpretation der Passagen hinaus, die er als Altus/Countertenor in der Christuskirche auf beeindruckende Weise präsentiert, haucht er den von ihm musikalisch inkorporierten Figuren regelrecht Leben ein. Wut, Verzweiflung, Angst und Freude werden mit intensiver Energie spür- und sichtbar, er lebt, was er singt. Und natürlich ist da noch Jakob Mack, ein Jesus, wie man ihn sich menschlicher, warmherziger und mahnender nicht vorstellen kann. Kaum lässt sich bei den verhaltenen, nachdenklichen und höchst spirituellen Passagen die stimmliche Kraft erahnen, die Mack entfalten kann, wenn das Werk es erfordert. So widmet er sich auch den diversen Bassarien äußerst nuanciert und gefühlvoll. Die Wirkung des großen,, schlanken Mannes setzt sich in seiner tiefen, sonoren und raumfüllenden Stimme fort. Sänger, Figur und Musik werden eins, der Zuhörer lauscht gebannt – wie einst bei Jesus selbst. Die jungen Stimmen des Jugendchores der Hanauer Karl-Rehbein-Schule flankieren die Kantorei und verleihen ihrer Stimmkraft zarte, fast sphärische Wirkung. Die Hanauer Kantorei verfügt über ganz besonderes Stimmmaterial, sodass einzelne Rollen wie zum Beispiel die des Judas, des Pilatus, einer Magd oder des Kajaphas und einige weitere von Mitgliedern der Kantorei wie selbstverständlich interpretiert werden. Und der gesamte Chor steht vor dem Publikum wie ein akustisches Bollwerk. Aus hundert Kehlen und stellenweise acht Stimmen formen die Sängerinnen und Sänger komplexes Tonwerk, dessen überwältigender, aufrührender und sinnlicher Wirkung sich niemand im Raum entziehen kann.


Christian Mause hat mit dieser Aufführung ein weiteres Mal seinen hohen Anspruch und seinen professionellen Umgang mit dem Werk, den Musikern und den Sängern unter Beweis gestellt. Es ist schon eine herausragende Leistung, binnen weniger Monate eine solch hohe Qualität zu erarbeiten und dem Publikum jede einzelne Minute dieser dreistündigen Darbietung wertvoll zu gestalten. Kaum war mit dem großen Geläut der Christuskirche auch der Abschluss der Passion verkündet und verklungen, kannte die Begeisterung der Zuhörer keine Grenzen mehr. Mit dem ersten Applaus stand das gesamte Auditorium und bejubelte zu Recht eine herausragende musikalische Darbietung. aller Beteiligter. Wie gut, dass es solche unvergesslichen Momente in der Hanauer Kultur- und Konzertlandschaft noch gibt. Man darf auf die nächsten Kantoreiaufführungen gespannt sein.


Im Anschluss an das Konzert hatten wir Gelegenheit, mit dem Tenor Oliver Kringel (O.K.) zu sprechen.

WFG: Herr Kringel, wie intensiv war der heutige Abend für Sie? Schließlich hatten Sie eine Menge zu tun. O.K.: Es war toll! Ich habe in den Jahren meiner Konzerttätigkeit noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Als der letzte Akkord des Schlusschores verklungen war und meine Anspannung und Konzentration endlich nachlassen durften, da sind die gesamten Emotionen, die ich während der Aufführung deckeln musste, aus mir herausgebrochen.

WFG: Sie haben schon so viele große Werke in verschiedenen Ländern gesungen. Was war heute das Besondere für Sie?

O.K.: Das war meine erste Matthäuspassion als Evangelist und Arientenor, und das Stück ist für mich ehrlich gesagt der Grund, warum ich Sänger geworden bin. Ich habe ein Jahr lang darauf hingefiebert und mich intensiv vorbereitet. Ich war einfach vollkommen überwältigt und zu Tränen gerührt, dass ich dieses Stück aufführen durfte.

WFG: Das Publikum war begeistert. Wie wirkt das auf Sie?

O.K.: Es fühlt sich einfach surreal an und dass das Publikum nach drei Stunden unglaublicher Musik einhellig aufgestanden ist und applaudiert hat – so etwas Intensives ist mir wirklich im Konzert noch nie auch nur ansatzweise passiert.

WFG: Sie haben das erste Mal mit der Kantorei unter Christian Mause gesungen. Wie war es für Sie?

O.K.: O, ich wünsche mir noch viele weitere tolle Konzerte mit der Kantorei, und es war mir wirklich eine besondere Ehre!


WFG, freier Redakteur


Foto: Christian Schauderna